In diesem Jahr feiert das autonome Wohn-, Kultur- und Kampfprojekt Rigaer Straße 94 sein zwanzigjähriges Bestehen, und somit 20 Jahre erfolgreichen Widerstand gegen jeden Versuch der feindlichen Übernahme.

Ein Anlass für uns, um einen kleinen Rückblick auf die Geschichte des Hauses und somit die der Hausbesetzungen im Osten Berlins zu wagen…

Alles schien möglich…

Berlin im Frühling. Die Mauer ist vor ein paar Monaten gefallen. Während es in Westberlin kaum noch besetzte Häuser gibt, fangen Menschen aus Ost und West mehr oder weniger gemeinsam an, in Ostberlin Häuser zu besetzen, hauptsächlich in Friedrichshain, Prenzlauer Berg und Mitte. Es gibt aber auch schon viele Wohnungen, die noch von der Zeit vor dem Mauerfall besetzt sind. Und viele der Menschen, die in diesen Kiezen wohnen, sind dem System gegenüber kritisch bis feindlich eingestellt.

Das war Berlin 1990. Friedrichshain war damals schon anarchistisch geprägt und beherbergte einzelne Anarcho-Kneipen. Der Bebauungsplan für die Altbauten des Bezirks sah nicht vor, die Gebäude zu schützen, sondern diese abzureißen und durch Neubauten zu ersetzen. Ein Teil dieses Vorhabens war bereits realisiert. Durch diesen Umstand gab es hunderte von leeren Gebäuden, die im Laufe der nächsten Jahre abgerissen werden sollten. Anfang 1990 wurde erst zögerlich angefangen, Häuser zu besetzen. Als diese Möglichkeit jedoch bekannt wurde, strömten Menschen aus Ost und West in die brachliegenden Stadtteile und eigneten sich immer mehr Raum an. Sie bauten Netzwerke und Infrastruktur jenseits vom Staat und seinen Autoritäten auf. Kurz vor der Annektierung des Gebietes der ehemaligen DDR gab es über 180 besetzte Häuser in Ostberlin. Die Besetzer_innen konnten zu diesem Zeitpunkt ziemlich unbehelligt durch die DDR-Obrigkeit leben. Nur die Nazischweine stellten ein anhaltendes Problem dar.

Mit der Übernahme der DDR wurde auch die bekannte West-Berliner-Linie übernommen, die besagte, dass zwar keine Neubesetzungen geduldet würden, es im Gegenzug dazu aber auch zu keiner Räumung bereits besetzter Häuser käme. Trotz dieser Zusage bzw. Drohung wurde im November 1990 in Lichtenberg ein Haus durch die Westberliner Bullen geräumt. Aus Solidarität mit den Geräumten und als Maßnahme gegen die Bullenrepression wurde in der Frankfurter Allee vor der Mainzer Straße eine Barrikade errichtet. Diese Barri nahmen die Bullen dann als Vorwand, um die Mainzer anzugreifen und diese zu räumen. Die Räumung zog sich über drei Tage hin und konnte trotz heftigstem Widerstand gegen die Schergen des Staates nicht verhindert werden.
Durch diesen Angriff machte der Staat klar, dass er die militärische Macht hat jedes Haus zu räumen. Mit dieser Erkenntnis begannen immer mehr Bewohner_innen besetzter Häuser, sich um deren Legalisierung zu bemühen. Und es wurden bis ´95 keine weiteren Häuser geräumt. Erst General Schönbohm im Dienst als Innensenator brach die Berliner Linie und räumte weitere, schon lange besetzte Häuser. Seitdem ist die Berliner Linie eine einseitige Erklärung des Senats, dass keine Neubesetzungen geduldet werden.

Und mittendrin unser Haus…

Das Hinterhaus und der Seitenflügel der Rigaer 94 wurden im Jahre 1990 besetzt. Die ursprünglichen Besetzer_innen waren ein bunt gemischter Haufen aus Autonomen und Punks, sowohl aus Ost als auch aus West. Die Bewohner_innen verstanden sich schon immer als Teil der autonomen Bewegung und sind in ihr aktiv. Sie entschieden sich bald, das Projekt zu legalisieren, um auch nachfolgenden Generationen die Nutzung zu ermöglichen. Ziel war es auch, weiterhin radikal und autonom politisch aktiv zu sein, ohne sich die ganze Zeit genötigt zu sehen, dies nur aus der eigenen Betroffenheit heraus zu tun.

Mitte der 90er zog der dubiose Fußballclub aus dem Erdgeschoss des Hauses aus und somit konnten die Räume durch die Bar Kadterschmiede neu genutzt werden. Die Schmiede wurde ein fester Treffpunkt der autonomen Punkkultur im Kiez. Sie war anfänglich jeden Tag offen und bot eine Kneipe, Vokü, Raum für Parties, Konzerte, Kino und Veranstaltungen aller Art. Die Schmiede war auch immer wieder Ziel von Angriffen durch die Bullen und wurde mehr als einmal von ihnen verriegelt. 2002 kam es zur endgültigen Räumung des vorderen Teils der Kadterschmiede, die trotz mehrmaliger Versuche nicht wieder zurückerobert werden konnte. Der hintere Teil wurde jedoch erfolgreich wiederbesetzt und ist heute einer der letzten unkommerziellen Orte im Kiez.

Auseinandersetzungen gab es auch immer wieder um die Frage des Eigentums der Rigaer 94. Die Besetzer_innen und Bewohner_innen des Projekts schlossen sich zu einem Verein zusammen und unterschrieben Verträge mit der Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain (WBF). 1998 kam es jedoch zur Rückübertragung des Hauses an die Conference on Jewish Material Claims Against Germany (JCC), da die ursprünglichen Eigentümer_innen im Nazi-Regime deportiert und ermordet worden waren. Auf jüdische Entschädigungsansprüche aus dem Gebiet der ehemaligen DDR wurde erst zu diesem späten Zeitpunkt reagiert, da sich die DDR als Opfer des Nazi-Regimes verstanden hatte und nicht als Erbe seiner Hinterlassenschaft und damit verantwortlich für Reparationen. Der JCC wurde nun das Haus überlassen, um daraus finanzielle Entschädigungen zu gewinnen und weiterzuleiten. Dementsprechend war die Jewish Claims Conference nicht an Verhandlungen mit den Bewohner_innen interessiert, sondern verkaufte das Haus schnellst möglich weiter, zunächst an Uwe Ehmke. Damit begann ein nicht enden wollender Streit um das Haus, im Zuge dessen Ehmke schnell vom Kauf zurücktrat. Nun ging entgegen der Bestrebungen der Bewohner_innen ihre Räumlichkeiten selbst zu kaufen, das Haus als nächstes an Suitbert Beulker. Und das war der Beginn einer langen Feindschaft, die bis heute andauert. Immer wieder versuchte er, das Projekt rauszuschmeißen, hetzte uns Bullen, Bauarbeiter und Securities auf den Hals und war bzw. ist damit letztlich immer gescheitert.

Highlights dieses Kampfes waren auf Seiten von Beule neben zahlreichen fruchtlosen Kündigungen der Mietverträge und Teil-Räumungen des Projektes der Versuch, uns eine Bombe im Keller zu platzieren und durch Rumfummeln am Strom das Haus abzufackeln. Wir antworteten mit Widerstand gegen Räumungen, Wiederbesetzungen, vielfältigen Aktionen und Demos, und unsere vielen Unterstützer_innen haben das eine oder andere Feuerchen für uns entfacht. Das Konzept „mit allen Mitteln auf allen Ebenen“ hat immer wieder bunte und kuriose Früchte getragen. An dieser Stelle: vielen Dank an alle, die uns in den ganzen Jahren unterstützt haben, ohne euch wären wir schon lange nicht mehr hier!

Drinnen und draußen wuselt es…

Wir wehren uns nicht nur gegen Angriffe auf unser Leben, das wir hier selbstbestimmt und gemeinschaftlich führen wollen, sondern wir mischen uns immer wieder in aktuelle Kämpfe ein, sowohl in die Szene hinein als auch aus der Szene heraus.

Das Projekt ist nicht allein an der Ecke: am Dorfplatz gibt es die Liebig 34 mit dem XB und dem Infoladen Daneben, die immer wieder von Bullen und Ordnungsamt terrorisiert werden. Mit einem beispiellosen Großaufgebot haben die Bullen vor Kurzem ein weiteres am Dorfplatz liegendes Projekt geräumt: die Liebig 14. Die bundesweit angekarrten Bullen sind auf massiven, berlinweiten Widerstand gestoßen und hatten große Probleme, den Kiez am Räumungstag in den Griff zu bekommen. Auch über Berlin hinaus gab es viele Soliaktionen. Der von der Szene veranschlagte Preis von 1 Millionen Euro Sachschaden im Zuge der Räumung wurde zielstrebig verfolgt und am Ende sogar übertroffen. Aber eine Millionen sind nicht genug: Das ganze System muss fallen!

Die Vielfältigkeit und Breite der Aktionen hat uns überrascht und viel Kraft gegeben um weiterzukämpfen. Es war ein verdammt gutes Gefühl mit vielen anderen Menschen auf der Straße zu sein und für eine gemeinsame Sache zu streiten. Hoffen wir, dass aus dieser Energie neue Projekte und Ideen entstehen.

 

Um den Dorfplatz gibt es immer wieder Gerangel mit der Staatsmacht die versucht, ihn zu befrieden. Doch diesen angeeigneten Raum lassen wir uns nicht so einfach nehmen. Dabei muss es nicht immer die große Aktion sein: Aneignung und Widerstand beginnen schon bei der Gestaltung des Raums durch Plakate, Stencils, Sprayen….

Unsere Hauswand hat das immer wieder nötig, da ein Reinigungskommando von Zeit zu Zeit Plakate entfernt. Mensch darf gespannt sein, ob sich wohl demnächst mal wieder Investor_innen hierher trauen. Es hat sich evtl. bei einigen noch nicht herumgesprochen, dass sie sich mit uns ordentlich Ärger einhandeln!

Bei der ganzen kämpferischen Stimmung gab es leider in der Vergangenheit auch einige nicht so sinnvolle Aktionen, die wohl eher einer reichlichen Alkoholisierung denn einer überlegten Planung entsprungen sind. Also bitte Leute, zündet nicht unsere Nachbar_innen an! Geht gar nicht! Wir machen schließlich nicht die Revolution mit unserem Hausprojekt allein. Es geht uns auch darum, mit Nachbar_innen Netze zu spinnen, und sich auf andere Initiativen zu beziehen, die sich kollektiv wehren. Ob mensch Miete zahlen kann oder nicht, darf kein Kriterium dafür sein, ein Dach über dem Kopf zu haben oder eben nicht.

Feindliche Übernahme… damit meinen wir nicht nur eine Räumung oder Befriedung von Außen, damit ist auch ein innerer Prozess gemeint. Einige Hausprojekte sind diesen Weg gegangen: sobald es einigermaßen gesichert ist, wird sich darauf ausgeruht, der politischen Aktivität der Rücken zugedreht und an der eigenen Nische in dem zur Normalität gewordenen Alltagswahnsinn gebastelt. Da haben wir was anderes vor: es geht uns nicht darum, es uns in der Gesamtscheiße möglichst gemütlich zu machen, sondern sie abzuschaffen! Es sei positiv angemerkt, dass viele Projekte aus’m Knick kommen, sobald sie selbst wieder bedroht sind. Das Kämpferische ist nicht ganz verloren gegangen. Wir wünschen uns aber eine stärkere und kontinuierliche politische Arbeit, die sich nicht nur um die eigene Existenz dreht.

So sehr wir nach Außen kämpfen, so wichtig ist es uns, dass sich auch innerhalb des Hauses mit der ganzen aus unserer Sozialisation mitgeschleppten Scheiße auseinandergesetzt wird. In der Geschichte der Rigaer 94 ist das schon das eine oder andere Mal schief gegangen. Interne Probleme wurden verdrängt, da der Kampf nach Außen wichtiger schien, bis es geknallt hat und ein Schwung Leute ausgezogen ist. So hat das Projekt eine relativ hohe Fluktuation. Neue Bewohner_innen bringen jedoch auch immer wieder frischen Wind rein. Was bleibt ist die Erkenntnis, dass es eben kein Spaziergang ist, hier zu leben und Burnout immer wieder vorkommt, obwohl wir uns große Mühe geben aufeinander aufzupassen. Gesellschaftliche Zwänge wie Leistungsdenken und Erfolgsdruck machen vor unserer Haustür nicht einfach Halt. Und auch informellen Hierarchien muss immer wieder der Kampf angesagt werden.

Die Wut auf die Verhältnisse in der kapitalistisch zugerichteten Gesellschaft und der Kampf dagegen bringen uns zusammen! Mit unserem Projekt bieten wir linksradikalen Initiativen Räume, um sich zu vernetzen. Wir wollen jedoch nicht beim Status quo stehen bleiben, sondern diese Struktur ausweiten. Allerdings ist es im heutigen Berlin kaum noch möglich, sich Häuser und Räume mit althergebrachten Besetzer_innen-Strategien zu erobern.

Deshalb: seid wild und unberechenbar, schafft neue Räume – seien sie physischer oder ideeller Natur – mit unkonventionellen Ideen und kämpft auch dort, wo es unser antagonistisches Gegenüber nicht erwartet! Lücken im System schaffen und nutzen!

Rigaer 94 verteidigen – Kapitalismus und Herrschaft bekämpfen!