Mal wieder eine Demo. Und mal wieder sind wir stinksauer. Warum? Nerven die Bullen? Nerven die glotzenden Unbeteiligten, die schonmal für das nächste größere Spiel die Deutschlandfahne schwenken üben? Sicher, die nerven. Aber heute ärgern wir uns auch über Leute innerhalb der Demo. Denn immer öfter flattern uns in letzter Zeit Nationalfahnen um die Ohren. Dabei hatten wir eigentlich das Gefühl, dass diese Zeiten langsam der Vergangenheit angehören.

Dieser „backlash“ ist für uns ein Anlass, das Thema „Nationalfahnen auf Demos“ einmal genauer zu betrachten.

Es ist klar, dass Menschen jeweils sehr Unterschiedliches mit den verschiedenen Nationalfahnen verbinden. Da kann es um Widerstand gehen, um Befreiung, um Mahnung an die Geschichte etc. Die spannende Frage ist für uns jedoch, was eine Demo mit Nationalfahnen nach außen hin symbolisiert, welche Botschaft sie vermittelt. Denn was Individuen mit der jeweiligen Nationalfahne verbinden, die sie da mit sich herumtragen, wissen meist weder Beobachter_innen noch die übrigen Teilnehmer_innen der Demo. Klar ist nur, dass sich in irgendeiner Weise positiv auf einen Nationalstaat oder eine nationalistische Bewegung bezogen wird.

 

Staat – Nation – Nationalstaaten

Staaten sind Systeme aus öffentlichen Institutionen, die sich über ein bestimmtes Gebiet erstrecken. In ihnen wirken verschiedene Gewalten, deren Auftrag und Verfügungsmacht in der Politik ausgehandelt und bestimmt werden. Dass dies nicht in einer Art und Weise geschieht, die einem Anspruch nach Selbstbestimmung, Freiheit und Solidarität gerecht wird, kennen wohl die meisten von uns aus eigener Erfahrung. In einigen Staaten gibt es mehr Aushandlung als in anderen, doch ihnen allen gemeinsam sind Grenzen, Knäste und repressive Maßnahmen gegen Alle, die gegen die staatlich vorgegebene Ordnung opponieren.

Doch woher nimmt so ein Staat eigentlich seine Legitimation? Hier kommt die Nation ins Spiel, denn aus ihr leitet der Staat seine Rechtmäßigkeit ab.

Die Nation ist nichts Natürliches, sie wird immer wieder neu hergestellt. Dabei wird sie so präsentiert, als sei sie die Entdeckung von etwas Gegebenem und nicht die Hervorbringung von etwas Neuem. Das Sprechen über Nation bringt die nationale Identität jedoch erst hervor. Die persönliche Geschichte von Menschen wird zur Geschichte einer als homogene Einheit gedachten Gruppe von Menschen gemacht. Die Nation muss sich von ihrer Zufälligkeit und Beliebigkeit, von der Verschiedenheit ihrer Individuen befreien. Homogenität wird forciert, Menschen in Schubladen gesteckt und die Welt schließlich in ein „wir“ und „die Anderen“ eingeteilt.

Von der Herstellung dieser künstlichen Schicksalsgemeinschaft ist es nur noch ein kleiner Schritt dahin, zu behaupten dass „wir“ mehr Wert seien als „die Anderen“. Damit wird Rassismus und anderen Ideologien der Ungleichwertigkeit Vorschub geleistet. Dabei ist es letztendlich doch bloßer Zufall, wo ein Mensch geboren wurde.

In einem Nationalstaat wird bestimmt, wer dazugehört und wer nicht. Er stellt sich selbst durch die Konstruktion von sogenannten Ausländern her, vergibt Staatsbürgerschaften und kann sie auch wieder entziehen. Ein ganzer bürokratischer Apparat ist damit beschäftigt, tagtäglich das „wir“ von „den Anderen“ zu unterscheiden. Die Folgen für die Menschen, die als „die Anderen“ bezeichnet werden, sind mitunter fatal.

 

…aber wie symbolisiere ich dann auf einer Demo, dass ich mich mit bestimmten Menschen solidarisch erkläre?

Keine Frage, es gibt eine Menge Menschen auf dieser Welt die ganz tief in der Scheiße sitzen, und für die ein Nationalstaat kurzfristig eine Verbesserung ihrer Situation bedeuten könnte. Doch kann das aus einer emanzipatorischen Perspektive heraus wirklich ein zu verfolgender Ansatz sein?

Wir sagen da ganz klar „nein“! Wenn es um Diskriminierung und Verfolgung geht, sollte es das Ziel sein, diese zu beenden und nicht, sich durch ein weiteres nationales Konstrukt abzuschotten bzw. neue Ausschlüsse zu produzieren.

Das ist sehr viel leichter gesagt als getan. Rassismus, Antisemitismus und andere Ideologien der Ungleichwertigkeit zu beseitigen ist ein harter, langer und niemals wirklich abzuschließender Prozess. Statt dessen einen Nationalstaat zu fordern kommt jedoch einer Kapitulation vor dem Problem gleich.

Und seien wir doch einmal ehrlich: Nationalstaaten existieren ohnehin ohne unser Zutun. Wenn sich neue Gründen, dann werden sie das höchstwahrscheinlich ohne unsere Unterstützung tun. Was wir als emanzipatorische Bewegung tun können, ist, die Probleme beim Namen zu nennen, gesellschaftliche Verhältnisse zu thematisieren und auch unsere ganz persönlichen Ein- und Ausschlüssen zu bearbeiten.

Anstatt also auf einer Demo eine Nationalfahne zu schwenken, könnte die Beendigung eines bestimmten menschenverachtenden Zustandes gefordert werden.

 

In diesem Sinne, für weniger Realpolitik und mehr konkrete Utopie!

No Border, no Nation!

Eure fleißigen Demogänger_innen aus der Rigaer94