Stellungnahme der Rigaer 94 und der Kadterschmiede zur Aufdeckung des Spitzels Marcel Göbel.

Uns liegt der öffentlich gemachte Sonderband Vernehmungen zum Aktenzeichen 234 UJs 2344/12 der Staatsanwaltschaft Berlin vor. Laut diesem wurde in der Nacht vom 18.07. auf den 19.07.2012 ein 22 Jahre alter Mann in Hamburg festgenommen, weil er offenbar eine Mülltonne angezündet hatte. Der Festgenommene ist Marcel Göbel (G.), zu dem wir in keiner uns bekannten Beziehung standen und stehen.

G., der nach seiner Festnahme zunächst von vermutlich Hamburger Polizist_innen vernommen wird, ist zum Spielball einer unter Druck stehenden Ermittlertruppe geworden. Bereits im Vermerk, der dem Vernehmungsprotokoll vorangestellt ist, lässt sich dies belegen.

In Hamburg gab es ähnlich wie in Berlin 2011 eine Hochphase der Brandstiftungen gegen Luxusautos. Zwischenzeitlich waren Nacht für Nacht 200 Polizist_innen und der Hubschrauber für eine Sonderkommission unterwegs und eine Belohnung von 20000 Euro für Ermittlungserfolge wurde ausgeschrieben um dem beizukommen, jedoch ohne Erfolg. In diesem Kontext ist zu verstehen, warum G. von den Beamt_innen zu beginn des Verhörs mitgeteilt wurde, dass der Richter zugesagt hätte, dass eine umfassende Aussage und aktive Unterstützung der polizeilichen Ermittlungen in Sachen Fahrzeugbrände bei seiner Verhandlung am 31.07.2012 positiv bewertet werden würden, obwohl die Vorwürfe gegen ihn nichts mit KFZ-Bränden zu tun haben. Die Drohung gegen G. ist zu diesem Zeitpunkt U-Haft mit anschließender mehrjähriger Haftstrafe.

Trotz der Tatsache, dass G. offenbar nach seiner Anwältin fragte, wird mit seinem Verhör begonnen. Die Lektüre des Verhörprotokolls veranlasste bereits die anonymen Autor_innen des Outing-Textes , G. als psychisch krank zu bezeichnen. Wir erkennen dagegen in G.s Aussagen einen Schrei nach Aufmerksamkeit und Anerkennung, die er offenbar in seinem Leben bisher nicht gefunden hat. Die Beziehung zu den Menschen, die er namentlich nennt und die er identifizieren will sind so oberflächlich, dass er nicht mal ihre richtigen Namen kennt und sie kaum auf Bildern erkennt. Dennoch scheint er sich hauptsächlich über die linke Szene, der er über diese knappen Kontakte zugehörte, zu identifizieren. Die wenigen Dinge, die wir über sein Leben wissen, erzählen von einem Obdachlosen, der sich mit Betteln und Pfandsammeln über Wasser hält. Ein Mensch, der keine Freunde hat und sich deshalb über soziale Netzwerke im Internet eine Illusion aufbaut. Nicht umsonst war G. alleine, als er auf dem Weg zu „Tessas sweet 17“ Geburtstag war und eine Mülltonne anzündete. G. kennt Tessa nicht und hat über eine öffentliche Facebook-Einladung von ihrer Geburtstagsfeier erfahren.

Jeder vernünftige Mensch, der das Protokoll liest, sieht in den wirren Erfindungen der Aussage einen Hilferuf nach menschlicher Zuneigung und bekommt Mitleid mit G. Der vernehmende Beamte Massaro aber schreibt im Vorvermerk: „Die Aussage des Herrn Göbel wird von den vernehmenden Beamten nicht in Zweifel gezogen. Er machte für uns nachvollziehbar und glaubhaft deutlich, dass er genau die ausgesagte Informationen so erhalten habe.“ Am nächsten Tag sitzt G. vor ranghohen Staatsschutzpolizist_innen, die ihn mit mütterlichem Zureden zu einer Aussage treiben, die für ihn den Abbruch der sowieso spärlichen sozialen Kontakte in seiner Wahlheimat, der linken Szene, zur Folge haben werden. Für die vielen durch ihn belasteten Personen sowie die Strukturen, darunter wir, sind die Folgen mindestens genauso gravierend. In der politischen Kampagne der Geheimdienste und Sicherheits-Politiker sind die Aussagen derzeit eine wichtige Grundlage bei der Manipulation der öffentlichen Wahrnehmung.

Öffentlich wird unser Kiez derzeit regelmäßig als „Tat- und Wohnort“ des „harten Kern der militanten linksautonomen Szene“ dargestellt. Es wird gar eine erfundene „ linksautonome Kampfsport- und Trainingsgruppe aus dem Rigaer Kiez“ für Anschläge verantwortlich gemacht. Dabei wird getreu der verfassungsschutzeigenen Extremismustheorie möglichst häufig versucht, die politische Dimension der bestehenden Auseinandersetzung zu verschleiern. Die Öffentlich Rechtlichen vollbrachten es gar, Anschläge auf Luxusbauten mit niedergebrannten Unterkünften für Geflüchtete gleichzusetzen (z.B. https://www.youtube.com/watch?v=6PPQXr5S4c0). Die Persönlichkeit Marcel Göbel, der aus persönlichem Frust Sachbeschädigung vollzieht und genauso gut bei Hooligans hätte landen können, wird auf die stadtpolitischen Kämpfe projiziert. Seine Aussagen passen in das Bild eines gewaltgeilen, jugendlichen Männerbundes, das unsere Gegner uns anheften wollen.

Wir glauben nicht, dass derartige Aussagen durch Polizei, Politik und Medien eine belastbare Grundlage benötigen. Schon immer haben Extremismustheoretiker, Nazis und Staatsschützer jeglicher Couleur Vokabular benutzt, dass uns einerseits mit faschistischen Gewalttätern gleichsetzen soll, andererseits als terroristischen Bürgerschreck oder Staatsbedrohung darstellen soll. Wir vermuten aber, dass die Aussagen von G. eine Art moralischer Stütze für die derzeitige Kampagne gegen die Rigaer Straße ist. Über die Zusammenarbeit des polizeilichen Staatsschutzes mit dem Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz gelangten G.s Darstellungen in den jährlichen Verfassungsschutzbericht und damit in die Öffentlichkeit. Der Verfassungsschutz schreibt ab 2013, also ein halbes Jahr nach dem Verhör G.s, bis heute regelmäßig über uns die etwa gleichlautenden Satzbausteine:

„Ein Rudiment ist die „Rigaer 94“ in Friedrichshain
, die wohl wichtigste Institution der Berliner „Anarcho“-Szene.

„Sie (die Räumlichkeiten der R94) sind
Ausgangspunkt und Rückzugsort von bzw. nach militanten Aktionen zur Erkämpfung „autonomer Freiräume“.

„Die nach wie vor wichtigste Institution der Berliner Anarcho-Szene ist die „Rigaer
94“ in Friedrichshain. Dabei handelt es sich vordergründig um einen Gebäudekom-
plex in der zweiten Häuserreihe der Rigaer Straße. Die Szene reklamiert jedoch für
sich, einen „autonomen Freiraum“ erkämpft zu haben, den es um jeden Preis zu
verteidigen gelte. Das bedeutet ganz konkret, dass dort rechtsstaatlichen Normen
die Geltung abgesprochen wird und dass dieser Raum dem Zugriff des Staates
und von Investoren entzogen werden soll. Die nächstgelegene Straßenkreuzung
zur Liebigstraße (in der sich ebenfalls ein Szeneobjekt befand) wird im Szenejar-
gon einvernehmend „Dorfplatz“ genannt. Dieser Euphemismus verschleiert, dass
Autonome dort in der Vergangenheit wiederholt äußerst gewalttätige Auseinan-
dersetzungen mit der Polizei provoziert haben und dass davon auszugehen ist,
dass die „Rigaer 94“ Ausgangspunkt zahlreicher gewaltorientierter Aktionen und
Anschläge war und ist.

“In direkter Nachbarschaft zur Liebigstraße 14 befindet sich die Rigaer Straße 94, die als eine zentrale Institution der gewaltbereiten
autonomen Szene Berlins bezeichnet werden kann.”

Im Verfassungsschutzbericht 2011 wird die Rigaer 94 oder die Rigaer Straße mit keinem Wort erwähnt.

Hier G.s Aussage zum Vergleich mit den Verfassungsschutzberichtzitaten:

Beamtin Reichenbach:
Genau. Kadterschmiede, sie wissen, was die Kaderschmiede ist?

Herr Goebel:
Ich weiß, was die Kaderschmiede ist, ich war dort auch schon vor Ort.

Beamtin Reichenbach:
Würden sie das erzählen? Also nur hier erläutern, damit, äh, wir wissen, was sie mit Kaderschmiede meinen. Ist das ‘ne Lokalität, ist das ein Haus?

Herr Goebel:

Also Kaderschmiede, Kaderschmiede ist ein Haus, wo sehr, sehr, wo sich sehr, sehr viele, äh, Punker, Autonome, also praktisch so diese ganzen gegen Rechts Stafette trifft. Dort wird halt, werden Partys veranstaltet, dort wird Alkohol ausgesschenkt, dort wird, ja, auch, werden auch andere Sachen gemacht, die ich hier nicht nennen würde, nennen möchte, weil ich mich damit auch selber beschudlige.

Beamtin Reichenbach:

Kein Problem.

Herr Goebel:
Ähm, dort werden Veranstaltungen geplant, Nazi-Aufmärsche geplant, äh, Aktion Dortmund 03.09. zum Beispiel, äh, Schanzenviertel Hamburg wird geplant und halt diese Nazi-Aufmärsche eben in ganz Deutschland.

G. beschreibt auf Nachfrage dann die Räumlichkeiten, die er angeblich so gut kennt. Möglich, dass G. dort als Besucher war und sich einfach nicht mehr so gut erinnert. Seine Darstellung ist jedenfalls falsch und der von ihm beschriebene Weg in die Kadterschmiede passt eher auf den Weg, den die Polizei bei der Stürmung der „Polizeikongress verpiss dich Party“ genommen hat: durch den Keller von unten in die Räumlichkeiten.

Herr Goebel:
…geht man halt auf so’n Hinterhof und dann kommt noch mal so ‘ne, so ‘ne ganz kleine Tür praktisch runter in so ‘ne Keller. Und da geht man dann halt rein, die Treppen runter, und das ist halt auch diese Räumlichkeit, die vor ein paar Monaten auch schon mal von der Polizei angegriffen worden ist im Zuge vom, äh, vom Polizeikongress in Hamubrg, in Berlin.

Beamtin Reichenbach:
In Berlin, genau.

Herr Goebel:
Da war ja dieser Vorfall, wo wir auch angegriffen worden sind in der Kaderschmiede von Einsatzhundertschaften.

Beamtin Reichenbach:
Waren sie dabei?

Herr Goebel:

Ich war nicht dabei. Ich habe das, äh, ich habe einen Anruf bekommen, weil ich beim Kollegen gepennt hab, er hat einen Anruf bekommen und wir haben halt dort, haben uns dann also auf den Weg gemacht und haben alles gesehen, wie die Polizei am machen war, mit Leitern wollten die ins Haus rein. Und da kam es halt auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und, und halt unseren Leuten.

G. vermischt offenbar seine eigenen Erlebnisse mit Erzählungen und öffentlicher Berichterstattung. So kann es ihm nicht möglich gewesen sein, die Polizei beim „machen“ mit den Leitern gesehen zu haben. Das Geschehen spielte sich auf dem von der Polizei abgeriegelten Hinterhof ab. Vielleicht hat dieses Video, das kurz nach dem Angriff veröffentlicht wurde, seine Fantasie beflügelt: https://www.youtube.com/watch?v=OL-OsrdCwCM
Wenig später in der Aussage:

Herr Goebel:
(…) Ich habe XXX halt gesehen, wie sie versucht haben, die Tür zuzustemmen, das heißt, praktisch mit mehreren Leuten gegen die Tür. Weil ich ja zu dem Zeitpunkt dann auch schon im Haus war. Ich bin ja ins Haus rein, noch reingekommen.

Beamtin Reichenbach:
Okay. Wie haben sie denn das Haus damals verlassen?

Herr Goebel:
Wie verlassen? Äh

In der Akte finden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass G. seine eignen Erlebnisse nicht von medial vermittelten Geschehnissen trennt. In seinem Drang nach mütterlicher Zuneigung durch die Beamtin Reidenbach, die fälschlicherweise im Protokoll „Reichenbach“ genannt wird, erfindet er ein persönliches Wissen, das ihn als Begleiter der Top-Terroristen der autonomen Szene auszeichnen müsste, so es denn stimmte. Dass die vernehmenden Beamt_innen ihn eigentlich auch nicht ernst nehmen, zeigt sich darin, dass sie seine Akte veröffentlicht haben. Normalerweise hätten sie alles dafür gegeben, daraus eine Verschlusssache zu machen und den neu gewonnenen „V-Mann“ mit allen Mitteln zu schützen.

Die Skurpellosigkeit mit der die Ermittler_innen G. ans Messer liefern, setzt sich darin fort, dass sie die Aussagen trotz ihrer offensichtlichen Unwahrheit dafür nutzen, Ermittlungsbefugnisse gegen einzelne Leute und Strukturen auszuweiten. Die mittelbaren und unmittelbaren Folgen seiner Aussage waren DNA-Entnahmen, Hausdurchsuchungen, gewalttätige Übergriffe durch die Polizei sowie eine Palette an Überwachungsmaßnahmen und anderer entwürdigender Maßnahmen gegen eine Anzahl und Bandbreite an Strukturen, die ein einzelner Mensch eigentlich gar nicht belasten kann. Details dürften wegen der Brisanz der Ermittlungsverfahren lange nicht an die Öffentlichkeit kommen. Es wäre jedoch wichtig, dass Betroffene von G.s Aussage ihre eigenen Akten nach Hinweisen auf diesbezügliche Verstrickungen durchforsten.

Was uns betrifft, stimmen wir der Analyse des letzten Absatzen im Outing-Text zu. G. hat dem misserfolg gebeutelten Staatsschutz etwas serviert, was in deren gefräßiges Maul gerade passt: die Rigaer 94 ist der Kopf einer hierarchischen Organisation, die sich zum Ziel gemacht hat, Gentrifizierung und Bullen aus dem Kiez zu schmeißen und darüber hinaus bundesweite Naziaufmärsche organisiert, um diese zu zerschlagen… oder…? Äh…

Wir weisen die Anschuldigungen Marcel Göbels zurück, fühlen uns aber ob der allgemeinen Aufmerksamkeit geehrt. In der Rolle als Headquater der „Anarchos“, wie Henkel und VS uns gerne bezeichnen, sehen wir uns aber nicht. Wir sind Anarchist_innen einer rebellischen Straße einer rebellischen Kultur einer rebellischen Welt. Alles andere ist Quark.

Ps: Bezüglich der Tätigkeit Marcel Göbels nach seiner Aussage, ermitteln unsere besten Leute und werden baldmöglichst darüber informieren.