Es mehren sich Anzeichen, dass es im Nordkiez zu einem Großeinsatz kommen wird. Am Freitag Morgen kam es zu einem Pseudoeinsatz aufgrund alter Transparente, nachdem am Donnerstag um 4:00 Uhr morgens einer starken Bullenaktivität mit einer Mobilisierung begegnet wurde.

Freitag früh gegen 09:00 Uhr verschafften sich die Bullen mittels einer Drehleiter und Amtshilfe der Feuerwehr Zugang zu einem Balkon im dritten Stock des Vorderhauses der Rigaer94. Abgesichert von zwei bereitstehenden Wannen wurde ein Transparent mit der Aufschrift “Erdogan vertreiben-Liebig34 verteidigen“ entfernt, das sich seit mindestens fünf Monaten dort befand. Federführend bei der Aktion, welche nur ein paar Minuten andauerte, waren Beamte die bei fast allen größeren Einsätzen und Angriffen in und auf die Rigaer94 zugegen waren, so zum Beispiel der ranghohe Bulle Pluschke (Bild 1) vom Abschnitt 51.

Dass die Bullen Transparente von unserem Haus entfernen ist nichts Neues. Dennoch sollte die Maßnahme zum einen im Kontext zu den dauerhaften Repressionen gegen Kurdische Linke, die Kurdische Freiheitsbewegung und Menschen, die sich mit dieser solidarisch erklären, betrachtet werden. Die jüngst erlassenen Verbote des Mezopotamien Verlags und der MIR Multimedia GmbH durch Horst Seehofer sprechen eine deutliche Sprache des deutschen Staates als treue und willige Vollstrecker*innen des türkischen Faschismus. Zum Anderen wirkte das Entfernen des Transparentes eher wie eine „spontane Aktion“ und eine Art „Antwort“ auf die Ereignisse der letzten Tage, da paradoxer Weise eine Fahne der YPG hängen gelassen wurde.

In den vergangenen Tagen häuften sich die Meldungen über einen eventuell bevorstehenden Angriff gegen unsere Nachbarin, die Liebig34, welche aktuell gegen ihre drohende Räumung kämpft. Für das Szenario des Angriffs sprachen sowohl die erhöhte Präsenz von in Zivil agierenden Bullen, die vermehrt vor dem Haus und in der unmittelbaren Umgebung, jeweils in den frühen Morgenstunden, festgestellt wurden und der häufige Einsatz eines Bullenhelikopters in den vergangenen Wochen. Hinzu kamen mehrere Informationen aus dritter Hand über ein Hilfeersuchen der Firma Dr. House Solutions bei den Bullen, um das Haus „begehen“ zu können. Die Liebig34 veröffentlichte bereits in den vergangenen Monaten Texte zur aktuellen Situation ihres Kampfes und dem Agieren des „Eigentümers“ Padovicz, welches etwaige Razzien zu (Identitäts)Feststellungen dort lebender Personen denkbar macht. Um für den Fall des Falles gewappnet zu sein, wurde Schutz vor der Rigaer94, der Liebig34 und an anderen Punkten des Kiezes organisiert.

In den letzten Wochen war die Präsenz des Staates vergleichbar marginal bis kaum seh- und spürbar. Ob und inwieweit dieser Einsatz mit etwaigen, geplanten Maßnahmen gegen Strukturen im Kiez zusammen hing und dieser durch die Präsenz der Anwesenden eventuell gestört wurden, können wir zu diesem Zeitpunkt nicht konkret bejahen oder verneinen.

Anis Amri und der Hauptfeind Rigaer94

Aus den vergangen Jahren wissen wir jedoch, dass in diesem Kiez sehr selten etwas „zufällig“ passiert – insbesondere wenn es mit Maßnahmen des Staates zusammenhängt. Mit Hinblick auf die drohende Räumung der Liebig34, welche auch maßgeblich Einfluss auf die Zukunft des Kiezes und der R94 in seiner jetzigen Form haben wird und der kommenden Gerichtsverhandlung zur Räumung der „Kadterschmiede“ am 13.06. werden auch die Aktivitäten der Bullen, insbesondere der Beamt*innen des Staatsschutzes wieder und weiter ansteigen. Zu welchen Mitteln diese/r greift, wenn es um die zu bekämpfenden Projekte geht, haben wir in den letzten Jahren deutlich aufgezeigt bekommen. Sei es durch die Verschickung von Drohbriefen oder durch Razzien mit dem Einsatz von Kriegswaffen.

Wie weit der fanatische Hass deutscher Innenbehörden, deren Untergebenen und freiwilligen Zuträger*innen auf „Linke“ reicht und welche Konsequenzen dieser mit sich bringt, wird nun im Untersuchungsausschuss Anis Amri deutlich sichtbar. Waren es doch Beamte des Berliner LKA 5 die den Antrag auf eine Verlagerung der Observation von Anis Amri im Sommer 2016 beantragten um fortan für die Ausspionierung unliebsamer Personen aus der Rigaer und deren Umfeld eingesetzt zu werden.

Die jüngsten Veröffentlichungen zur Abschiebung eines mutmaßlichen Mittäters Amris durch deutsche Sicherheitsbehörden, um ihn so vor der Verhaftung in Deutschland zu schützen, zeichnen das Bild einer sehr komplexen Geschichte. Die Rigaer94 ist zum Teil dieser Geschichte gemacht worden. So erklärte der damalige Berliner Innensenator Frank Henkel im Juni 2016 die Rigaer94 zur Chefsache, was unter anderem eine dreiwöchige Belagerung unserer Wohn- und Veranstaltungsräume zur Folge hatte. Es scheint, als hätte die Priorisierung unserer Strukturen rückblickend eine Bedeutung an dem Verlauf des komplexes rund um den Breitscheidplatz genommen, aber ganz so einfach wollen wir dieses Thema nicht beenden. Es ist nicht verwunderlich, dass wir Teil dieses Komplexes wurden, da wir im Sinne des Staatsschutzes Staatsfeind*innen und Gefährder sind.

Mit den neuen Polizeigesetzen hat vor allem das Konstrukt des Gefährders eine bedeutende Rolle in der Polizeiarbeit eingenommen. Unter dem Deckmantel der Prävention werden Analysen von Menschen erstellt, die allein die Bullen konstruieren, die aber weitreichende Folgen für die Betroffenen haben. Wir wollen nicht darüber spekulieren, ob sich durch die Priorisierung eines Gefährders zu anderen Gefährdern etwas an dem Ausgang des Geschehens am Breitscheidplatz geändert hätte, noch sollten wir uns der Logik unterwerfen, dass Anschläge durch die Repression der Behörden verhindert werden können. Sicher sind wir uns jedoch, dass solche Vorfälle für die Verschärfung der Polizeigesetze und der darauf folgenden noch stärkeren Militarisierung der Repressionsbehörden genutzt werden.

Für unseren Kampf ergeben sich aus den jüngsten Entwicklungen zwei wesentliche Herausforderungen. Direkt müssen wir uns gemeinsam der Gefahr für die Liebig34 stellen und uns in den nächsten Tagen darauf vorbereiten, dass es zu einem martialischen Einsatz gegen den queer-feministischen Schutzraum kommen kann. Von direkter Gegenwehr bis zu demonstrativen oder dezentralen Aktionen ist alles in Erwägung zu ziehen. Auch ist berlinweit damit zu rechnen, dass der Staatsschutz aus seiner Lage der Bedrängnis heraus zu treten versucht, indem er angreift.

Längerfristig müssen wir daher am Ball bleiben und die Erkenntnisse über den Staatsschutz und die Rolle der Polizei in der Gesellschaft verfestigen. Die mittelfristige Zielrichtung ist die Bekämpfung der gesellschaftlichen Legitimierung der Herrschenden und letztendlich die Staatskrise.

Prozess am 1. März

Unter anderem in diesem Kontext steht die Klage des Vereins „Freunde der Kadterschmiede e.V.“ gegen die Räumung und dreiwöchige Belagerung des Hauses im Sommer 2016, die am 1. März1 vor dem Verwaltungsgericht Berlin in einem 1. Prozesstermin verhandelt wird. An diesem Termin wird sich erst einmal zeigen, ob das Gericht die Klage für ein umfassendes Verfahren zulassen oder aufgrund des politischen Drucks die Strukturen, die erst zur Räumung, schlussendlich aber zum Desaster für die Bullen und Politik, geführt haben, doch lieber im Dunkeln lassen wird.

Wir vertrauen auf die Kraft der Straße und all derjenigen, die mit uns die Unerträglichkeit der kapitalistischen Zustände erkennen und bekämpfen.

Unser Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen und Verletzten des Anschlags am Breitscheidplatz. Ebenso gedenken wir denjenigen, die im Kampf gegen die Schlächter des selbsternannten Islamischen Staates, zu denen sich auch Anis Amri zählte, ihr Leben ließen.

Euer Vorder- und Hinterhaus der Rigaer94


1 – 10:00 Uhr // Verwaltungsgericht Berlin, Kirchstraße 7, 10557 Berlin